Anlässlich der Vernissage im KommRum am 08.06. 2018:

 

Kleine und große Unvollkommenheiten

 

Rede zum Thema der Vernissage von Markus Mende am 8. Juni 2018

Von Dr. Joachim Giera (Filmwissenschaftler, Berlin)

 

Guten Tag und herzlich willkommen in der Ausstellung von Markus Mende. Als mich der Künstler darum bat, ein paar Worte zur Eröffnung zu sprechen, wandte ich vorsichtig ein, dass ich aber nicht viel Ahnung von der Malerei besäße. Markus tat – großzügig – so, als hätte er meinen Einwand nicht gehört und meldete stattdessen drei Wünsche an: du musst ja nicht lange reden, kannst auch ein paar Gedichte aufsagen, mach´s nur interessant… Hm … klar … aber das sind ja gleich drei Wünsche auf einmal, erwiderte ich, da können wir auch um die Ecke zu Lidl gehen, Überraschungseier kaufen und jedem Gast eins davon in die Hand drücken!

 

Dann nannte Markus den Titel seiner Ausstellung und ich dachte: Donnerwetter! In Zeiten, in Leistungszeiten, wo jeder, der auch nur 1 Prozent unter 100 bleibt, als Verlierer gilt, wo jeder, der nicht vollständig und vollkommen perfekt durchs eigene Leben trampelt, sofort als Versager abgestempelt wird – in solchen Zeiten „Kleine und große Unvollkommenheiten“ mit einer Ausstellung zu feiern, das hat was: Donnerwetter, Respekt!!! 

 

Dennoch – zur Unvollkommenheit gehört das Antonym, der Gegensatz, die Vollkommenheit. Eine lustige, aber ernst gemeinte Frage wäre nun: wer braucht hier wen? Die eine die andere oder die andere die eine oder sie sich gegenseitig? Ich habe – für mich – folgendermaßen entschieden: Die Vollkommenheit braucht – in jedem Falle – die Unvollkommenheit, fehlt sie, ist die Vollkommenheit nicht vollständig, eben nicht vollkommen. Fehlt der kleine Kratzer, der kleine Widerhaken im Perfekten, im Vollkommenen, ist das Große nur groß, das Glamouröse nur glänzend, aber unendlich fern. (hier erzählte der Redner eine Geschichte zur Olympiade 1984) 

 

Umgekehrt glaube ich, dass die Unvollkommenheit nicht so sehr auf die Vollkommenheit angewiesen ist, sie nicht braucht, denn sie ist ja ohnehin auf dem Wege zu ihr... Die Vollkommenheit, das Perfekte, das Ideal – falls wir überhaupt dahin gelangen -, ist ein Ergebnis. rien ne va plus, nichts geht mehr, alles fertig, langweilig - gähn! Die Unvollkommenheit ist spannender. Sie ist – für mich - der Weg. Auf dem wir uns reiben, mitunter aufreiben, aber wenn wir „dran bleiben“ in jedem Falle wachsen. Ich gebe zu, diese Darstellung ist verkürzt, ich will ja auch nicht drei Stunden reden.

 

Am schönsten, für mich – persönlich – am produktivsten sind die Unvollkommenheiten, die sich in der Vollkommenheit verbergen, im Ideal versteckt sind, in der Perfektion ein Schlupfloch gefunden haben, fast nicht wahrnehmbar und doch wirken als Haken, als Widerhaken, als Widerspruch zu dem, was ich gerade idealerweise, vollkommen perfekt zu sehen, hören, zu erleben, zu fühlen, zu schmecken oder zu riechen meine.

 

Was bedeutet das? Ich bin kein Fachmann für die Malerei und muss also ausweichen. Zum Beispiel in die Lyrik und hier den Wunsch nach Gedichten erfüllen. Hier kann ich Beispiele dafür geben, wie in das vom Dichter vollkommen entworfene sprachliche Bild ein Haken gesetzt wird, ein Widerhaken, ein Widerspruch, der die Perfektion hervorhebt und zugleich in Frage stellt, zumindest aber stört, und so die Wirkung auf den Leser/den Zuhörer verdoppelt: Befriedigung und Verunsicherung „aus einer Hand“ , in einem Bild, hier dem sprachlichen. Hören Sie mal: (hier trug der Redner das Gedicht von Sarah Kirsch "Ein Bauer" vor). 

 

Erste Aufforderung: Suchen Sie in den Bildern von Markus Mende etwas, das Ihren Widerspruch erregt, und fragen Sie sich, was ist das, und dann vor allem aber was hat das mit mir zu tun? Nehmen Sie diese kleine Unsicherheit mit nach Hause und finden im Alltag, in Ihrem Alltag mögliche Antworten – für sich... *** Die großformatigen Bilder von Markus Mende sind im wahrsten Sinne des Wortes vollkommen (!) ausgefüllt, keine Fehlstelle, kein unbesetzter Fleck, kein Mangel, kein Makel, kein Manko. Und dennoch preist der Künstler – so der Titel der Ausstellung – die Unvollkommenheit, im Kleinen und im Großen. Im Netz finde ich 66 Synonyme in vier Bedeutungsgruppen für Unvollkommenheit. In der zweiten Bedeutungsgruppe unter Schwächen werden eben u.a. Mangel, Makel und Manko aufgeführt. 

 

Zweite Aufforderung: Suchen Sie in den Bildern von Markus Mende nach Schwächen oder nach dem, was Sie für Schwächen halten. Sie dürfen das, Sie sollen das sogar! Dafür ist Kunst auch da – sich zu erregen und/oder/bzw. sich aufzuregen, sich ins Verhältnis zu setzen. Und wenn Sie schon mal dabei sind, vielleicht fallen Ihnen auch ein paar eigene Schwächen ein, nicht im Vergleich, nur zum eigenen Spaß, zum eigenen Nachdenken... Und bedenken Sie: Schwächen verstecken sich gern in der Vollkommenheit. Und was wäre wohl vollkommener als die Liebe? So heißt es in Brechts Dreizeiler: (Bertholt Brechts Dreizeiler "Schwächen")

 

*** Hängt ein Bild in einer Ausstellung, ist es für gewöhnlich fertig, vom Künstler freigegeben, vollkommen (oder vollendet). Aber auch realisiert? Nicht ganz. Hier kommt die dritte Aufforderung ins Spiel; Wolfgang Schulz formuliert sie für die Mende-Bilder in der Ausstellungsankündigung auf der Website: „Wer genauer hinsieht, wird in einigen von ihnen auch Vexierbilder entdecken.“ Also, nur zu: WAS entdecken Sie in Mendes Bildern, WEN entdecken Sie – auch sich selbst? Und bedenken Sie: Gemälde sind Kunstwerke, keine Apparate, vollkommene schon gar nicht. So einer lässt sich leicht außer Kraft setzen: zum Beispiel: (Heinz Kahlaus Gedicht "Der vollkommene Apparat") 

 

Mendes Bilder sind aber auch Verwirr-Bilder. Nicht verworren – das ist etwas gänzlich andres. Was will uns der Künstler damit sagen? Die alte, ewig langweilige Frage, die wir dem Mann (oder der Frau) stellen, wenn wir selbst zu faul sind nachzudenken.

 

Hier für die Ausstellung die vierte und letzte Aufforderung: Fragen Sie sich diese Frage selbst nicht den Maler, nicht den Markus, nicht Herrn Mende. Ich garantiere Ihnen, wenn Sie DAS tun: dann wird er sie groß anschauen, die Augen weit aufreißen, dann lächeln und dann – schweigen... Selbst wenn Sie alles falsch finden an und in seinen Bildern, wenn Sie sich selbst fragen, werden Sie eine richtige Antwort finden – auch garantiert. So wie in diesem Gedicht, in dem alles falsch und doch richtig ist: (Ernst Jandls Gedicht "Lichtung") 

 

*** So. Ferddich! Das soll´s gewesen sein. Damit es hier nicht so schwermütig wird, komme ich mit Heinz Erhardt „Noch ´n Gedicht!“. Es soll zeigen, dass Fehler, wie wir Unvollkommenheiten zuweilen auch – fälschlicherweise -nennen, nicht nur menschlich sondern auch Tierisch sind: (Nun zitierte Herr Dr. Giera das Gedicht von Heinrich Heine "Der tugendhafte Hund" und anschließend holte er den Künstler zu sich nach vorn und überreichte ihm eine Tafel belgischer Schokolade) 

 

Falls nun doch was unvollkommen sein sollte, hier dieser Dialog zum Schluss, den Sie alle kennen und der besagt: es gibt immer eine Lösung. Los geht´s! (Der Künstler und Herr Dr. Giera lasen gemeinsam den Dialog zwischen Daphne und Osgood am Schluss des Films "Manche mögens heiß" von Billy Wilder)